Irmgard Hustadt - Kriegserinnerungen

Irmgard Hustadt - Kriegserinnerungen

Stellungnahme für die Sammlung der Patchwork Gilde Deutschland e.V.

Irmgard Hustadt: Kriegserinnerungen

140 x 346 cm (H x B)
Chintz, Polyester
Applikationen

Irmgard Hustadt aus Dinslaken ist als Textilkünstlerin nie auf der ganz großen Bühne des Patchwork in Deutschland in Erscheinung getreten, sie hatte keine Arbeiten in jurierten Wett-bewerben, hat keine Preise gewonnen. Dennoch verdient ihr Quilt „Kriegsserinnerungen“ in die Sammlung der Patchwork Gilde Deutschland aufgenommen zu werden. Wie kann das sein? Ein Interview mit ihrer Tochter Britta Hustadt-Gast gibt Aufschluss:

Auf den ersten Blick ist Irmgard Hustadt eine typische Vertreterin ihrer Generation: Sie wird 1938 als jüngstes von vier Kindern in eine strengreligiöse Bergarbeiterfamilie hinein geboren,  besucht die Volksschule, macht eine Ausbildung als Sparkassenangestellte und gibt den Beruf auf, als sie 1959 heiratet und in den darauffolgenden Jahren drei Kinder bekommt. Sie geht in ihrer Mutterrolle voll auf. Aber sie gibt sich damit nicht zufrieden.  Sie will mehr und ist bis zu ihrem Tod 2016 ständig auf der Suche nach neuen, kreativen Impulsen. Sie besucht die Messen wie die Documenta, geht auf Demonstrationen und ist diskussionsfreudig. Dieser freiheitsliebende Geist ist es auch, der sie Mitte der 1980 Jahre bewegt, an der Universität Dortmund ein „Frauenstudium“ aufzunehmen.

Ziel des Studiums war nicht so sehr, Frauen eine Berufsausbildung zu ermöglichen (wobei ca. 50% der Absolventinnen Berufe ergriffen, in denen sie es sich zur Aufgabe machten, Frauenrechte einzufordern), sondern das Selbstverständnis der Frauen und ihre von der Gesellschaft zugewiesene Rolle als Ehefrau und Mutter grundlegend zu hinterfragen. Eine Veränderung von Innen heraus sozusagen.  Indem man Frauen akademisch bildet und ihr Selbstverständnis wissenschaftlich untermauert, verändert man nicht nur die Studierenden, sondern die Kinder, die von diesen Frauen erzogen werden und ihr gesamtes bürgerliches Umfeld. In ihrer autobiographischen Aufzeichnung spricht Irmgard Hustadt dementsprechend auch von ihrer „erweiterten Sichtweise, was die Beziehung der Geschlechter zueinander angeht, im weltlichen und religiösen Zusammenhängen.“

Handarbeiten und Nähen war immer schon Teil ihres kreativen Selbstverständnisses. Sie griff jeden Trend auf, machte Batik, arbeitete mit Peddigrohr und kam Mitte der 1980er Jahre somit auch zum Quilten. Hier fand sie das kreative Ventil, mit dem sie ihre religiöse Erziehung und ihre traumatischen Kriegs- und Nachkriegserinnerungen aufarbeiten konnte.

Ihr Bruder hatte sich freiwillig zum Militär gemeldet, ihr Vater geriet in Gefangenschaft. Sie saß mit ihrer Mutter im Keller und suchte Schutz vor Fliegerangriffen. Von dort aus hat sie durch eine Luke gesehen, wie ein Nachbar in einem Moment noch dastand - und im nächsten Mo-ment war das Haus weg - und der Nachbar ebenso. Nach dem Krieg haben sie Sirenen zeitlebens ebenso erschreckt wie Menschenmassen, die irgendwelchen Ideologien linientreu und unreflektiert verfolgten.

Diese Erinnerungen und die kritische Auseinandersetzung mit Erlebten und dem Wertesystem ihrer Erziehung machte sich in Quilts bemerkbar, die sie mit religiösen Motiven und politischen Motiven gestaltete.  Irmgard Hustadt schrieb über den Quilt „Kriegserinnerungen“:

Ich, Jahrgang 1938, hatte keine Ahnung von politischen und gesellschaftlichen Hintergründen, die die Bereitschaft der Menschen zu einem Krieg ausmachten.
Ich hatte nur Angst! Angst vor Menschen, die Menschen quälten, prügelten, sie verhafteten.(…)
1995 – fünfzig Jahre nach Kriegsende – versuchte ich in einer von mir genähten Stoffcollage Erinnerungen an diese schreckliche Zeit wiederzugeben und durch Symbole auszudrücken. Das, was sich in den Konzentrationslagern abgespielt hat, das Dunkelste unserer Geschichte, habe ich erst viel später erfahren und nicht etwa in der Schule im Geschichtsunterricht, sondern durch bruchstückhafte Erzählungen, Andeutungen und letztlich durch Lesen von entsprechender Literatur.
Der Wahnsinn beginnt. Die kollektive Umformung lässt Individualität nicht zu Lebensvorstellungen, Wünschen, Hoffnungen und Träumen werden unter einen Helm gedrückt. Füße, die sich in verschiedene Richtungen hätten bewegen können, wurden in Stiefel gezwängt. „Im gleichen Schritt und Tritt“! Der „Führer“ bestimmte, wohin die Weltgeschichte zu gehen hat und alle hatten ihm zu folgen.
Endlich hatten alle wieder Arbeit! Die Rüstungsindustrie erlebte einen ungeahnten Aufschwung. Aufrüsten zum Untergang!
Sirenen bestimmen den Tagesablauf. Der Wechsel von Alarm und Entwarnung bedeutete Angst und Aufatmen.
Das, was ein Haus ausmachen sollte – Schutz und Geborgenheit gewähren, kehrte sich um. Häuser wurden zu Todesfallen. Halb wahnsinnig vor Angst, rannten wir durch brennende Straßen zum Hünxer Wald. Unterwegs warfen wir uns immer wieder auf den Boden, wenn neue Flugzeuge aufleuchteten, um ihre vernichtenden Bomben abzuwerfen.
Die unglaublichen Verbrechen in den Vernichtungslagern.
Ein Volk blutet aus!
Das Ende – Kreuze über Kreuze – wieviel ungelebtes Leben – wieviel ungelebte Liebe.
Amputiert Sichtbare und unsichtbare Amputationen. Menschen, ihrer Träume und ihrer individuellen Lebensmöglichkeiten beraubt. Viele für immer kaputt. Aber doch auch viele trotz allem hoffende, zupackend, den Neuanfang wagend.
Trümmerfrauen!
Sie gehören zum Straßenbild – die Kippensammler. Mit einem gesammelten kleinen „Blauen Dunst“ Träumen nachzuhängen.
Ich las einmal „Gewalt ist männlich“! Sicher neigen Männer dazu, Probleme mit Gewalt zu lösen. Ich wünsche mir Männer, die Leben erhalten, das ihre und das anderer Menschen.

Der Quilt ist collageartig mit unterschiedlichen Motiven appliziert worden. Im linken Bereich findet man Uniformen und Waffen auf hellem Grund, die sich stark abheben von den brenn-enden Städten, die rechts auf schwarzem Hintergrund zu sehen sind. Dazwischen Menschen, die sich im Wald verstecken und menschenleere Vernichtungslager. Nur der Rauch ist zu sehen und ein verlorengegangener Teddybär. Teils sind die Applikationen in dem Wald drei-dimensional ausgearbeitet worden. Je nachdem, wie man sie legt, können sich die applizierten Figuren dahinter verstecken oder sind dem Betrachter schutzlos ausgeliefert.

Das Werk ist nicht darauf ausgelegt, zu gefallen. Eigentlich will man lieber wegschauen. Aber damit tut man der Arbeit und dem Thema unrecht. Man kann förmlich spüren, wie viel Kraft es gekostet haben muss, ein derartigen Quilt zu schaffen. Irmgard Hustadt schafft es, ihre eigenen Erinnerungen aufzuarbeiten und den Betrachter mit einer weichen, textilen Arbeit an unsere harte politische Vergangenheit zu erinnern.

Das Ziel der Sammlung der Patchwork Gilde Deutschland ist es, die Geschichte des Patchwork in Deutschland zu dokumentieren. Diese Arbeit zeigt deutlich, wie Frauen – auch ohne formale künstlerische Ausbildung - das textile Medium genutzt haben, um politische Aussagen zu tätigen und Erlebnisse künstlerisch aufzuarbeiten.

Das Werk stellt einen würdigen Beitrag zur Sammlung der Patchwork Gilde Deutschland e.V. dar.

Barbara Lange, Oktober 2021
 

Quellen:

Interview mit Britta Hustadt-Gast

Autobiographische Aufzeichnungen von Irmgard Hustadt

Wiltrud Gieseke „Handbuch zur Frauenbildung“